artgerecht (2019)


Ausstellung in der Kunsthalle Kempten im Rahmen des Ausstellungsstipendiums der Sparkasse Allgäu

Fast aufmüpfig, fordernd scheint dieses Wesen auf dem Plakat zu Elisabeth Baders Ausstellung „artgerecht“ den Betrachter anzuschauen. Zurzeit lebt das Schaf in der Kunsthalle Kempten und man ist gewillt zu glauben, dass dieses dicht-geformte Knäuel aus dicker, gehärteter Schnur, das auf einen Hocker montiert wurde, den Betrachter tatsächlich zum Nachdenken über die Natur, den Menschen und die Kunst bringen kann. Zuerst die Natur, dann der Mensch und erst dann die Kunst: So versteht die Künstlerin Elisabeth Bader ein intaktes Weltgefüge. Die weise Weite der Welt ist aber mehr und mehr von der zerstörerischen Egozentrik des Menschen bedroht. Damit Kunst Mahnung und Möglichkeit zur Veränderung zugleich sein kann, muss dem Betrachter Raum für Erkenntnis über dieses feingliedrige Zusammenspiel gegeben werden, das unser Schicksal so eng mit dem überlebensnotwendigen Gleichgewicht auf unserem Planeten verbindet.

Elisabeth Baders Objekte finden ihren Anfang oft in akribischen Beobachtungen der uns umgebenden Natur, gepaart mit einer unbekümmerten Neugier auf die vielfältigen Ausprägungen des Lebens. Ihr hintersinniges Spiel mit wabenähnlichen Strukturen, facettenreichem Flechtwerk und materialtiefem Licht und Schattenspiel vermittelt großen Respekt vor der Kraft der Natur und des Lebens. Die Werke bilden einen komplexen Erzählraum, der sein Vokabular aus ungewöhnlichen und auf den ersten Blick befremdlichen Techniken bildet. Eingesetzte Materialien beziehen ihre Ästhetik aus den Gegensätzen von Körperhaftigkeit und Leere, Ordnung und Chaos, organischer Einzelform und geometrischer Struktur. Eindrücke von menschlicher Organik, maschinenhafte Lebendigkeit und im Œuvre stets präsente Strukturen von Bäumen, Felsen und Landschaft verdeutlichen im komplexen Gesamtwerk, wie sehr der Mensch auf seinen Platz in diesem sensiblen Gefüge angewiesen ist.

Die Natur kommt auch ohne uns Menschen zurecht. Wenn also „Natur“ elementarer Bestandteil im Kontext einer Künstlerin ist, so ist diese künstlerische Aussage natürlich eng mit dem Wesen der Künstlerin selbst verbunden. Ihre Persönlichkeit und Geschichte werden damit wichtig für das Verständnis der Werke und somit selbst unverzichtbarer Teil der Intention. Mit Engele flieg fällt Elisabeth Bader 2009 anlässlich der Ausstellung zur Kemptener Festwoche im Hofgartensaal der Residenz erstmals in der Region auf. Das düster wirkende Werk ist mit schwarzem Pigment, Grafit und Asche auf Leinwand und Papier gemalt und gezeichnet, die Grenzen sind fließend; die Arbeit ist mehrfach über- und zusammengeklebt, im Prinzip eine Collage, aber eben nur im Prinzip. Sie ist rechteckig, aber nicht exakt im rechten Winkel, nicht genau begrenzt, an manchen Stellen „ausgefranst“. Sie wird akzentuiert durch einige, in etwa senkrecht verlaufende Kreppklebebandstreifen, die ihrerseits wieder übermalt sind, und von denen man nicht so recht weiß, ob sie nun übriggeblieben sind vom Prozess. Oder bewusst gesetzt, um der Komposition zu dienen. Dass es in diesem Werk aber um mehr geht als die formalen Elemente, um mehr als einen flüchtigen Blick auf das Ganze, zeigen verklebte Risse und Schnitte in der Mitte der Leinwand: Wunden, die notdürftig mit Heißkleber vernäht wurden. Wer die Arbeit genauer anschaut, der ahnt, ja der spürt förmlich, dass sich unter der Oberfläche des Bildes Geschichten verbergen. Geschichten, die von der Künstlerin unter dicken Schwarzschichten versteckt wurden.

Auch die großflächige Bildkomposition Schiff, die 2010 mit dem Rudolf-Zorn-Preis ausgezeichnet wurde, zwingt den Betrachter zu einem Blick aus der Distanz und aus der Nähe. Ähnlich jenen dicht gepackten Landkartenbildern von Kindern, die um die Darstellbarkeit des Raumes ringen, werden dabei parallele Ereignisse simultan festgehalten und bis zum Rand hin erzählende Wege aufgezeigt. Die Bilder fordern das Auge auf, umherzuwandern und Ruhepunkte zu suchen, die angesichts der ausgewogenen Flächendominanz erst einmal schwer zu finden sind. Schöpferische „Kraftzentren“ verleihen Elisabeth Baders Bildern die nötige Stabilität, wenn auch nicht im Sinne einer klassischen, ausgewogenen Komposition dargestellter Motive. Sie bieten dem Auge des Betrachters Halt, bevor es sich wieder auf die Suche machen kann nach dem Geheimnisvollen, das erzählt werden will oder vielleicht sogar erzählt werden soll?

Wie wichtig Elisabeth Bader der Einklang zwischen Natur und Kultur ist, verrät die kleine Collage/Zeichnung Freifisch, die - bereits 2007 entstanden – die älteste Arbeit in der Ausstellung ist. Spätere Werke wie Brocken, schwarz Wald, Stamm fokussieren den uns umgebenden Naturraum, ohne ihn dabei zur rein künstlerischen Aussage zu degradieren. Die beschreibende Komponente der vergebenen Titel hilft, die inhaltliche Aussage aus dem subjektiven Gestaltungsblick der Künstlerin zur objektiven Mahnung zu wandeln. Gut zwei Dutzend Brocken sind verteilt in der Kunsthalle positioniert. Sie muten wie Felsen an und vermitteln einen Eindruck von steinerner Schwere und zeitloser Ruhe zugleich. Die Größten von ihnen nehmen wie Felsen spürbaren Raum ein. Kleinere liegen im Weg und müssen umgangen werden. Andere scheinen wie abgelegt, vergessen. Erst bei genauer Betrachtung könnte auffallen, dass ihre Hülle aus reinem Papier geformt, ihre Oberfläche wie ein detailliertes dreidimensionales Studium der Natur mit ihren Felsformationen zu erleben ist. Der 18-teilige schwarz Wald hingegen wirkt genauso wie der in Einzelteilen ruhende Stamm wie „endzeitlich verkohlte Stämme, übriggebliebene Schalen ohne inneres Leben, hohl wie die Hybris der Zivilisation“ (Wolfgang Mennel). Totholz ist aber gar nicht tot, denn „Totholz ist ja immer noch lebendig und bietet unzähligen Lebewesen Raum zum Überleben“, wie Elisabeth Bader anlässlich des Füssener Förderpreis für junge Kunst 2016 für das insgesamt 8 Meter lange, fünfteilige Objekt erklärte. Diese endlose Wiederverwendung der Natur ins sich selbst spiegelt sich auch in der bewussten Materialwahl der Künstlerin: Sie nutzt hauptsächlich Materialien natürlichen Ursprungs. Zellulose in Form von Papieren, Hanf, Leinen, Baumwolle und organische Leime stellen als Werkstoffe eine direkte Verbindung zu Flora und Fauna her.

Einen großen Teil des neueren Werkes nimmt die Auseinandersetzung mit der Meereswelt ein. Die bedrohte Welt der Korallen wird in vielfältigen Wellenbrechern und einem kleinen Riff thematisiert, die Arbeiten sind sämtlich aus Draht und Wachs gefertigt, wobei es sich mit dieser bildhauerischen Verbindung genauso verhält wie mit der Natur: Manches scheint so einfach. Auch Trichoptera, Kraken nach dem Liebesrausch und Pflatsch erklären die Welt des Wassers zum aktiven Gegenwartsthema, während Loreleis Kamm, kleiner Schädel und Schädel vom Urahn auf Vergangenheit und Vergänglichkeit hinweisen. Die beiden aus Drahtstücken gestalteten prähistorischen Pusteblumenskelette dürfen hier gern als weiterer subtiler Hinweis verstanden werden, dass die Welt einst auch ohne den Menschen lebendig war. Dass Elisabeth Bader mit der Art, wie der Mensch mit diesem Planeten umgeht und dabei permanent Respekt vor dem Leben vermissen lässt, nicht einverstanden ist, zeigt auch ihr 21-teiliges Arsenal, das 2017 mit dem Krumbacher Kunstpreis ausgezeichnet wurde. Aufgereihte Papier-Abformungen von Wasserhähnen thematisieren den Kampf um lebensnotwendiges Wasser, das längst zur Waffe mächtiger Konzerne geworden ist.

Die Werke von Elisabeth Bader wirken manchmal wie die sprichwörtliche Katze im Sack: Der Betrachter ist gezwungen, sich auf Unbekanntes einzulassen und darf sich gern ein Beispiel an Kindern nehmen, die die Welt mit Freude und Stauen zu entdecken wissen. Fast nichts in dieser Ausstellung ist so, wie es auf den ersten Blick scheint. Wettrennen bildet ein z.B. Zwischenspiel aus Objekt und Installation. Zunächst scheint das Werk auf seine waagrechte, schienenartige Konstruktion reduziert zu sein, auf der einzelne abgerissene Klebereste aus Kreppband um die Vorherrschaft ringen. Richtet man jedoch das Augenmerk auf die Wandfläche unterhalb der Drahtkonstruktion, so entdeckt man nach und nach viele weitere angeklebte Kreppwesen, die auf ihrem Weg nach oben die ersehnte Zielgerade einfach nicht schnell genug erreichen. Oder sind sie bereits unterwegs gescheitert und außerhalb unseres erfolgsgetrimmten Blickes zu Randfiguren an der Wand innerhalb eines als unwichtig erachteten "Nichts" degradiert worden?

Durchaus vergleichbar haucht leichter Koffer für schwere Zeiten als feine Raumzeichnung dem "Nichts" zwischen ihren komplizierten Drahtverästelungen eine unsichtbare Flächenstruktur ein. Man fragt sich unwillkürlich, ob das Gepäck beim persönlichen "Wettrennen" im Leben Hilfe oder eher Hindernis ist. Das Reiseutensil erzählt dabei von vergangenen Erinnerungen und ferner Zukunftssehnsucht zugleich, ohne dass dabei auch nur ein einziger intimer Moment aus der Gedankenwelt der Künstlerin preisgegeben wird. Es behält seine erlebten Eindrücke für sich - und schafft damit Raum für den Betrachter und seine eigenen Empfindungen. Wie souverän die Künstlerin dieses „Nichts“ zu formen vermag, zeigt nach der Erschöpfung, das nur aus geknüpften und gespannten Bindeschnüren besteht. Ohne stabilisierendes Skelett gearbeitet gibt das Objekt vollständig den Blick frei in das Innenleben, das wie ein fremdes Wesen ausschließlich aus den Stricksynapsen seiner selbst zu bestehen scheint.

Auch der Herzmagen strahlt eine fremdartige Wesensform aus und offenbart einen drähtegestützten Blick in seine wundersame Anatomie. Geformtes Bauchgefühl, das Körper und Seele in sich aufgesogen hat. Die Monsterfalle hat ihre Arbeit für die Künstlerin anscheinend ebenfalls erfolgreich aufgenommen und auch der kleinen Wiederbelebungsmaschine sollte man ihre Kraft als emotionalen Defibrillator nicht absprechen – sie kann bei jedem Betrachter ungefragt ein kleines Lächeln auslösen. Elisabeth Bader versteckt in ihren Arbeiten allerdings all die technischen Komponenten, die für das Funktionieren ihrer Maschinen und damit auch ihrer Welt notwendig sind. Feine Drähtchen, die wie nervöse, kleine Nervenstränge die Bauteile verbinden, weisen auf das Motorenherz ihres Endorphinomat hin, der 2012 als Teil eines Maschinenensemble mit dem Skulptura-Kunstpreis in Buxheim ausgezeichnet wurde. Ähnlich wie bei einer Posaune wird ein langes Röhrensystem mit Energie versorgt, um am Ende vielleicht jene wohlig und wolligen tiefen Gefühle zu erzeugen, die man sich von solch einem Gerät erwarten würde.

Während die einen Arbeiten eine offene Innenschau in die Gefühlswelt der Künstlerin darstellen, sind andere Werke auf eine aktive Wechselwirkung mit der Welt ausgelegt. Die Kompositionen und Konstruktionen scheinen auf den ersten Blick wie oft kindliche Lösungen für die alltäglichen Gefühlsprobleme, die uns alle immer wieder heimsuchen. Dabei ist egal, ob Elisabeth Bader ihre Arbeiten aus Papier fertigt, oder aus Schnur, oder Stoff oder Draht: sie benötigen keinerlei zusätzliche innere Stabilisierung. Diese Reduktion auf Form, Funktion und Freiheit verleiht den Objekten ihren organischen Charakter und ihre Lebendigkeit.

Zuerst die Natur, dann der Mensch und erst dann die Kunst. Das ist artgerecht.

Text: Jürgen Meyer und Christian Hof
Foto: Mathias Bader